Worauf es beim Einfahren wirklich ankommt

Hört man die Stammtischgespräche bezüglich Einfahrprozedere von Verbrennungsmotoren, fühlt man sich teilweise in die fünfziger Jahre versetzt.

Früher war nicht alles besser. Einfahren zum Beispiel erforderte enormes Fingerspitzengefühl. In den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurden Autos und Motorräder in aufwändigen Prozeduren auf der Straße eingefahren, große Firmen besaßen sogar eine Einfahrbahn auf dem Werksgelände. Damals gab es den Beruf des Einfahrers, das waren Leute mit besonders feinem Gehör und Popometer, die jede ungewöhnliche Lebensäußerung des Motors heraushörten. In speziellen Einfahrprogrammen wurden Kolben, Kolbenringe, Zylinder, Ventile und Ventilsitze an zunehmend steigende Belastung gewöhnt. Damit wurde zunächst das Gröbste des Einfahrprozesses erledigt. Auch danach musste der Kunde noch sehr lange strenge Einfahrvorschriften einhalten, um dem Motor die Anlagen für ausreichende Leistung, geringen Ölverbrauch und eine lange Lebensdauer mitzugeben. Schaut man sich zerlegte Motoren dieser Ära an, wird auch der Grund für die strengen Einfahrvorschriften klar. Im Vergleich zu modernen Motoren waren die Kolbenringe mehr als doppelt so hoch, sehr steif und besaßen ein zu geringes Formfüllvermögen, um Unrundheiten und Konizitäten der Zylinderlaufbahn auszugleichen. Auch verschleißfeste Beschichtungen aus Molybdän oder Hartchrom waren noch sehr selten.

Formtreue der Zylinder und die Qualität der Honung waren alles andere als optimal. Wer einen solchen Motor sofort hart hernahm, erzeugte zumindest hässliche Brandspuren an den Kolbenringen. In schlimmen Fällen wurde der Kolben lokal so heiß, dass er fraß. Eine weitere heikle Baugruppe war der Ventiltrieb. Nocken und Stößellaufflächen waren weder vom Werkstoff noch von der Bearbeitung annähernd auf dem Stand wie heute. Auch die Abdichtung der Ventilsitze ließ häufig zu wünschen übrig. Nicht zu vergessen natürlich die bei weitem schlechtere Ölqualität dieser Zeit, speziell bei den Punkten Scherstabilität und Hochdruckbelastbarkeit. Weil die verwendeten Werkstoffe an den heiklen Reibstellen im Vergleich zu heutigen Motoren so weich und wenig verschleißfest waren, mussten mit einem sinnvollen Einfahrprozess die nicht optimal bearbeiteten Oberflächen langsam aufeinander eingerieben werden. Man konnte also dem Motor in den ersten Lebensstunden seines Daseins viel Gutes tun oder frühzeitig die Wurzel zu seinem vorzeitigen Ableben legen.

Einfahren heute

50 Jahre später und mit den reichhaltigen Erkenntnissen aus milliardenschwerer Forschung sieht die Situation heute erheblich entspannter aus. So funktionieren heutige Kolbenringe völlig anders: Sie sind relativ elastisch und arbeiten mit viel geringerer Vorspannung als früher. Erst bei hohem Zylinderdruck, also bei hoher Last werden sie durch den Gasdruck zusätzlich an die Zylinderwand angepresst. Auch andere ehemalige Achillesfersen des Motors, nämlich Kolben, Honqualität, Nocken, Stößel und Ventilsitze sind trotz der hohen Beanspruchung in modernen Motoren extrem robust. Das gilt vor allem dann, wenn es sich um Großserienmotoren mit entsprechendem Know-How des Herstellers in Fertigung und Entwicklung handelt. Diese Motoren werden bereits in der Entwicklung standardisierten Grenz- und Missbrauchstests unterzogen, bei denen beispielsweise die Kolben und Ringe ihre Fresssicherheit unter Beweis stellen müssen. Als Gegenmaßnahme sind die Kolben häufig mit einer aufgedruckten Graphitschicht am Schaft versehen. Einen solchen Motor werden Sie selbst durch brutalste Behandlung nicht zum Fressen bringen, wenn nur genügend Kühlflüssigkeit und Öl drin ist.

Zwar kann ein moderner Motor durch rücksichtlose Fahrweise in der Einfahrzeit kaum nachhaltig beschädigt werden. Dennoch ist eine gewisse Zurückhaltung bis zur ersten Inspektion – im Mindesten bis 5000km – noch immer ratsam. Immerhin hat der Motor außer der häufig recht oberflächlichen Auslieferungsinspektion noch keine eingehende Kontrolle hinter sich. Und schon ein nachlässig montierter Kühlwasserschlauch richtet bei hohen Drehzahlen viel mehr Schaden an als bei gemäßigtem Tempo. Ein weiterer Grund für eine solche Vorsichtsmassnahme ist der so genannte Urschmutz, ein Problem, mit dem alle Motorenhersteller kämpfen. Dabei handelt es sich um die Rückstände aus der Fertigung des Motors. Relativ harmlos sind feine Aluspäne, die recht weich sind und kaum nennenswerten Schaden anrichten. Wesentlich schlimmer sind Rückstände aus der Bearbeitung der Kurbelwelle, der Pleuel oder vom Honen, denn dabei handelt es sich teilweise um hochfesten Vergütungsstahl. Auch der feine Abrieb der ersten Einfahrkilometer, der von Kolbenringen, Nocken, Stößeln, Schlepphebeln oder Getriebezahnrädern anfällt, ist sehr hart und nicht gerade Schonkost für die feinstbearbeiteten Gleitlagerflächen. Richtig schlimm aber sind Reste von Gießsand – chemisch Siliziumkarbid – die trotz aufwändigster Waschprozeduren nicht völlig aus den komplizierten Zylindern und Köpfen speziell wassergekühlter Motoren herauszuspülen sind. Zwar werden die groben Bestandteile all dieser Rückstände vom Ölfilter zurückgehalten, die feinen Partikel mit einer Größe unter vier Mikrometer aber wandern ungeniert durch das Filterpapier und verrichten permanent ihr abrasives Werk im Motor. Speziell der Gießsand ist in dieser Hinsicht sehr unangenehm, schließlich wird genau diese Verbindung auf Schleifpapier und -scheiben zum Bearbeiten gehärteten Stahls eingesetzt.

Deshalb ist der erste Ölwechsel mit Filter der wichtigste im gesamten Leben eines Motors. So finden sich in der Ölfilterpatrone eines gerade eingelaufenen Motors alle verwendeten chemischen Elemente. Gerade die enormen Mengen an Eisenabrieb und Siliziumkarbid wird ein Filter später nie mehr zu sehen bekommen. 


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